Woche 8 / 13.-19.Mai 2019

Das vergangene Wochenende stand ganz im Zeichen des Mittelalterfestes in Montreuil-Bellay, das mit einem eigenen Text- und Bildbeitrag dokumentiert ist. Am Sonntagnachmittag stiegen wir dann wieder aus unseren Kostümen sowie Rollen aus und besuchten zum Abschluss ein Orgelkonzert in der eindrücklichen romanischen Basilika von Cunault, nun wieder an der Loire westlich von Saumur. Fünfhundert Meter vor dem Ortseingang ein wunderschön gelegener Stellplatz im Hochwasserbett der Loire, auf welchem der Bäcker mit seinem R4 morgens um acht Uhr den Weckruf hupt. Wer steht schon nicht gerne auf, wenn einem das frische Brot praktisch ans Bett geliefert wird, herrlich. Dazu stahlblauer Himmel und strahlende Morgensonne; dies die positiven Nebeneffekte des kühlen Nordostwindes.

Am Montag besuchten wir „les hélices terrestres“, die irdene Helix des Künstlers Jacques Warminski (1946 – 1996) in Saint-Georges-les septs-Voies. Nochmals ein Eintauchen in die Thematik der Troglodytes (Höhlenwohnungen) im Anjou.
Der Sohn polnischer Flüchtlinge sei hier als Junge durch die Felder und Büsche der Gegend gestreift … und dabei durch einen überwachsenen Kamin ins Leere gestürzt. Er fand sich einige Meter tiefer in einer verlassenen und verwilderten Höhlenwohnung wieder, was offenbar seinen Entdeckerdrang entfachte. Er sei dann immer wieder hergekommen und habe allmählich die Überreste einer kompletten dörflichen Siedlung entdeckt. Im Laufe seines Studiums der Künste und seiner weiteren künstlerischen Tätigkeit (vorwiegend „de l’art éphémère“ – vergängliche Kunst im natürlichen Raum) sei ihm klar geworden, dass er mit jenem Sturz durch den Kamin recht eigentlich „in seine Berufung hineingefallen“ sei. Er machte es sich zur Aufgabe, die vormaligen Besitzer dieser Höhlenwohnungs-Ruinen ausfindig zu machen und allmählich sämtliche „cavités“ aufzukaufen. In den neunziger Jahren machte er sich daran, den Weiler „l‘ Orbière“ der Verwilderung zu entreissen, die Höhlen zugänglich zu machen und sie mit seinen künstlerischen Visionen auszugestalten. Das Spiel zwischen „konkav“ und „konvex“ zieht sich wie ein roter Faden durch sein unermüdliches Schaffen. Mit unerhörtem Körpereinsatz (er war selbst ein schwergewichtiger riesiger Mann) und mit Unterstützung von Helfern habe er Tausende von Kubikmetern Sandstein ausgehoben, weitere Höhlen geschlagen, Symbole und Ornamente eingebracht …. und mit Tausenden Kubikmetern Beton einen nach oben offenen Ampitheater-ähnlichen Trichter gestaltet: das Pendant zu seiner unterirdischen Welt. Nach rund fünf Jahren und nach Abschluss der zentralen Elemente seines Projektes sei er 1996 gestorben. Ein kompetenter und facettenreicher Artikel über den Künstler findet sich hier (französisch).

Zu schön, dass wir noch am selben Abend unseren letzten Besuch im Anjou machen dürfen: wir sind eingeladen, Guy (den pensionierten 70-jährigen Fouée-Bäcker vom Tag der offenen Tür) und seine Frau Nicole in deren troglodytischem Zuhause in Montsoreau zu besuchen. Die beiden haben nach der Pensionierung die bisherige Ferienwohnung zu ihrem Haupt-Wohnsitz gemacht. Abgesehen von einem Wintergarten-ähnlichen Anbau aus Holz und Glas befinden sich noch sämtliche ihrer Räume in Sandstein-Höhlen. Die alten Waschtröge, das Lager für die Weinfässer, Weinpresse und Wein-Trog, offener Kamin und Kochstelle – das ist alles noch sichtbar und integriert. Wände und Decken sind gekalkt und die Böden mit alten Tonplatten und teilweise mit Holzparkett komfortabel ausgelegt. Zeitgemässe Annehmlichkeiten wie Strom, Wasser, Toiletten und Dusche sind eingebaut. Geheizt wird aber nach wie vor nur mit Holz, entweder im geschlossenen Feuerraum (gewissermassen im Sockel des Cheminées – mit automatischer Warmluft-Abgabe an den Wohnraum) oder in der offenen Feuerstelle mit Kamin. Die Temperatur sei ganzjährig recht angenehm, wenn auch mit 18 bis knapp 20 Grad für die „normalen“ Gewohnheiten unserer Zeit doch eine Herausforderung. Einzig der Nordostwind, der zufällig auch an diesem Abend bläst, sei unangenehm und drücke den Rauch in den Kamin zurück. Das tut der guten Stimmung und der herzlichen und gastlichen Atmosphäre aber keinen Abbruch. Wunderbare Gespräche bei Quiche und Wein; herzlichen Dank, Nicole und Guy, und hoffentlich auf Wiedersehen eines Tages in der Schweiz.

Damit beschliessen wir unseren Aufenthalt im Anjou, in dieser einzigartigen Gegend im unteren Loire-Tal, welche einst Ufer und Untergrund eines längst verschwundenen Meeres war. Daher die ausgeprägte Fruchtbarkeit, die Eignung des Bodens für den Weinbau – und daher die Tatsache, dass in diesen Böden noch heute rund 14’000 Höhlen und unzählige Kilometer unterirdischer Weinkeller, Champignon-Kulturen etc. zu finden sind. Den meisten Menschen ist das Loire-Tal als Tal der prunkvollen Schlösser bekannt. Wir durften in dieser Woche auch eindrückliche Blicke in den Untergrund machen, erleben woher das Baumaterial für diese Schlösser überhaupt kam … und eine sympathische Welt mit originellen und herzlichen Menschen „hinter und unter den Fassaden“ kennenlernen.   

Da ist noch etwas: Am Mittelalterfest in Montreuil-Bellay hatte eine Gruppe engagierter Jugendlicher einen Informationsstand aufgebaut. Sie engagieren sich partnerschaftlich für ein Behindertenheim in Ourika, in einem Tal des Hohen Atlas unweit von Marrakech in Marrokko. Bisher wurde Geld gesammelt, um Lehrkräfte und praktischen Unterricht in einem Schulgarten zu finanzieren. Heute nun werden getrocknete Gewürze aus jenem Garten verkauft. Ziel der nächsten Finanzierungsaktion ist es, einigen jener Jugendlichen mit körperlicher Behinderung diesen Sommer eine Reise nach Montreuil-Bellay zu ermöglichen. Da helfe ich gerne mit, verbinden mich doch gleich mehrere Leidenschaften mit dieser Aktion: Marrokko war ein unvergesslich schönes und gastliches Land für meine Fahrrad-Touren, dann teile ich sehr gerne die Vision einer solidarischen und gerechten Gesellschaft mit gleichwertigen Chancen auch für Menschen mit Behinderung … und schliesslich kann ich mir durchaus vorstellen, dass einer meiner Workaway-Einsätze im kommenden Winter auch in Ourika stattfinden könnte. Super Engagement dieser Jugendlichen aus Montreuil-Bellay!
Beim Büchsen-Schiessen an ihrem Stand gelang es mir, 8 von 10 Büchsen zu treffen. Nicht genug für den Hauptpreis, einen ganzen geräucherten Beinschinken. Überraschenderweise brachte mir Guy aber tags darauf eine Flasche Wein, die ich anscheinend gewonnen hätte. Zum Wohl!

Diese Woche erfuhren wir, dass Jean Vanier am 7.Mai neunzigjährig einem Krebsleiden erlegen sei. Am Donnerstag 16.Mai findet die Beerdigung in Trosly-Breuil bei Paris statt. Die Nachricht (vgl. den Nachruf in der NZZ am Sonntag) berührt uns, zumal wir ja gerade auf dem Weg sind zu einer Arche-Gemeinschaft in der Bretagne. Jean Vanier, ehemaliger kanadischer Marineoffizier, dann Philosophie- und Theologieprofessor begann in jungen Jahren, sich radikal für Menschen mit geistiger Behinderung einzusetzen und mit ihnen in würdiger und gleichwertiger Form zusammenzuleben. Daraus entstand die Arche-Bewegung, welche heute 152 Gemeinschaften auf der ganzen Welt umfasst. Menschen, die damals noch in unwürdigster Weise in psychiatrischen Kliniken dahin vegetierten, haben inzwischen auch andernorts in unserer Gesellschaft Akzeptanz, Existenzsicherung und angemessene Versorgung erfahren. Das besondere – spirituell und jesuanisch motivierte – radikale Engagement für ein gleichwertiges Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, wie es die Arche-Bewegung postuliert und lebt, stellt aber immer noch einen speziellen Leuchtturm dar: denn professionelles Handeln für jemanden (gegen Geld, Status und Anerkennung) ist meist nochmal was Anderes als ganz persönliches, uneigennützig solidarisches Engagement. 

Dieser feine Unterschied ist nicht leicht zu fassen. Der Hirnforscher Gerald Hüther spricht in seinem Buch über die Würde des Menschen von der Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt. Vielleicht ist dies eine passende Beschreibung für diesen feinen Unterschied: im einen Fall leiste ich einen Job, setze meine Fachlichkeit und meine Energie ein, halte aber eine sogenannt „professionelle Distanz“ und mache einen andern Menschen damit zum Objekt meiner Bemühungen, Forschungen etc.. Im andern Fall lasse ich mich auf eine Begegnung von Mensch zu Mensch ein, lasse mich persönlich berühren und begegne damit einem gleichwertigen Subjekt. (Selbstverständlich sei damit nicht ausgeschlossen, dass auch in institutioneller fachlicher Arbeit würdevolle Beziehungen von Subjekt zu Subjekt geschehen können, so gut wie auch das Wirken in Arche-Gemeinschaften nicht automatisch frei von entwürdigenden Objektivierungen ist.)

Die Gefahr ist unübersehbar, dass unsere Gesellschaft allenthalben zur Objektivierung neigt – zur „Vermarktung“ auch persönlichster Ressourcen – und dass persönliche Begegnungen zwischen Subjekten, ein sich-berühren-lassen von Mensch zu Mensch, für dieses profit- und machtgetriebene System tendenziell unkontrollierbar und damit unerwünscht sind.

Ich will mich ganz entschieden für das subversive Potenzial der persönlichen Begegnung und für das Prinzip der menschlichen Würde und Freiheit einsetzen. Lassen wir uns diese ursprünglichste Fähigkeit, den konkreten zwischenmenschlichen Austausch von Gütern und Ressourcen, das Verschenken von Zeit, Gastfreundschaft und Freude, nie nehmen. Denn kein Roboter kann ersetzen, was persönliches gegenseitiges Interesse im Tiefsten ausmacht. 

Jean Vanier, aber auch zahlreiche jener einfachen und bodenständigen Menschen, denen wir in den letzten Wochen begegnen durften, stehen für dieses persönliche Engagement: einfach leben. EINFACH leben. Einfach LEBEN. Oder in den Worten des Philosophen Martin Buber: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Darin liegt wohl der wahre Antrieb auch für unser Reiseprojekt.

Der Dienstag ist ein ausgesprochener Reisetag: aus der Gegend von Saumur fahren wir nach La Gacilly am Eingang zur Bretagne. La Gacilly ist Herkunfts- und Gründungsort, aber auch kultureller Mittelpunkt der weltweiten Natur-Kosmetiklinie „Yves Rocher“. Der einstmals verschlafene und von Abwanderung bedrohte Ort ist heute ein lebendiges Künstlerdorf, touristischer Anziehungspunkt und eindrückliches Zeugnis der visionären und innovativen Kraft von Yves Rocher. Das sehr modern inszenierte Museum und die jährlich stattfindenden Foto-Ausstellungen im Naturraum sind tatsächlich eine Reise wert.  

Via Rochefort-en-Terre führt uns der Weg anschliessend auf einen idyllisch gelegenen kleinen Bauernhof-Camping direkt am „Golfe du Morbihan“ (Noyalo, 47°36’41“N, 02°41’43“W). Erstmals sehen wir wieder Meerwasser und das eindrückliche Spiel der Gezeiten, wenn auch noch nicht das offene Meer. Dieses sehen wir erst auf der Fahrradtour über die Halbinsel („Presqu’île de Rhuys“), als wir das Château de Suscinio besuchen: prächtig gelegen zwischen Lagunen und Moorlandschaft, das einstige Jagdschloss der Ducs de Bretagne.

Ausspannen, Schreiben, Lesen, (elektronisch) Kontakte pflegen – und erstmals in diesem Jahr die sommerliche Stimmung geniessen. Wunderbar.

Am Freitag und Samstag besuchen wir die Altstadt von VANNES; abwechslungsreiche Szenerie für einen eher regnerischen Tag. Und schliesslich die Weiterfahrt an unser nächstes Zwischenziel: für Samstagabend 18.Mai sind wir in Clohars-Fouesnant angemeldet, bei Nicolas und Monique bzw. zum nächsten Projekteinsatz in der Arche-Gemeinschaft „Le Caillou Blanc“, wo wir schon im Jahr 1991 zusammen mit unseren Kindern einen fünfmonatigen Einsatz machten.

Eine Antwort auf „Woche 8 / 13.-19.Mai 2019“

  1. Lieber Christoph
    Schön und interessant sind eure Berichte zu lesen. Ihr erlebt ja wahnsinnig viel auf eurer Reise! Und man bekommt den Eindruck, dass ihr die Schweiz, die Heimat überhaupt nicht vermisst.
    Nun bei uns ist nun auch der Sommer gekommen. Heute soll es gegen 30 Grad geben. Gestern und am Freitag waren wir mit Urs und Erika auf einer Wanderung im Kanton Schaffhausen/ Zürich. Wir starteten am Rheinfall, der sehr viel Wasser führte, und wanderten dem Rhein entlang nach Rheinau. Die Rheininsel und deren Kloster ist wunderschön und eindrücklich. Wir übernachteten direkt an der Grenze in einem einfachen Gasthof. Am Samstag wanderten wir dann weiter am Rhein nach Ellikon. Diese Landschaft war sehr eindrücklich und schön. Man wähnte sich irgendwo am Amazonas. Weiter ging‘s zum Rhein/ Thurdelta. Überwältigend diese schöne Natur. Bis nach Flach wanderten wir, dann bestiegen wir das Postauto und wir staunten wie schön der Kanton Zürich ist. Eine Glace in der Altstadt Winterthur rundete unseren Ausflug ab.
    Ich wünsche euch weiterhin viel Freude bei euren Unternehmungen. Bliebid gsond ond luegid eu guet!
    Ganz Gueti Grüess us em Rhytal Thomas

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