Woche 6 / 29.April bis 5.Mai 2019

Höchste Zeit wieder etwas zu schreiben. Der Bus ist gepackt; morgen Montag vormittag geht es weiter. Wir verlassen das Château du Petit Thouars, wo wir nun über mehr als zwei Wochen unseren Workaway-Einsatz absolvierten. Nun bleiben uns zwei Wochen Transfer-Zeit, bis am 17./18.Mai in Clohars-Fouesnant in der Bretagne der nächste Einsatz beginnt.

Das Loire-Tal mit seinen Schlössern haben wir nun gesehen: und dass wir zuletzt noch ein Schloss „von innen“ erleben durften, war bestimmt ein besonders lehrreicher Eindruck. Denn auch nach gut zwei Wochen bleibt die Bilanz eindeutig: hier gibt es – auch noch Jahrhunderte nach der französischen Revolution – einen offensichtlichen Unterschied zwischen Schlossbesitzern und Bediensteten. (Entgegen meiner Annahme im vorausgehenden Artikel.) Erstaunlich, da es sich bei den Schloss-Erben ja eigentlich um ein junges Paar handelt, das zuvor in Paris gelebt hatte. Uns gelang es bis zuletzt nicht wirklich, ein lockeres, vertrauensvolles und von gegenseitigem Interesse geprägtes Verhältnis zu den Hosts aufzubauen – und unsichtbare aristokratische Grenzen zu durchbrechen. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass diese mit all ihren Aufgaben und den organisatorischen Anforderungen ziemlich ge(über)fordert sind.

Ganz anders jedenfalls die zahlreichen Begegnungen mit den anderen Hand-Arbeitern. Hier ergaben sich wunderbare, fröhliche, lustige und hilfsbereite Begegnungen, hier war gegenseitiges Interesse spürbar und wir brachten in dieser Zeit auch richtig viel gemeinsam Zustande: eine riesige Parkanlage gemäht, viele (Rosen-)Beete gejätet, für die Kinder einen kleinen Garten angelegt und ein Zeltgerüst aufgebaut, geputzt, geordnet …etc. Renata hat beim Jäten verschiedene Phasen durchgemacht, sich zuweilen über das Desinteresse der Hosts gewundert, geärgert – und schliesslich zur Einsicht gefunden, dass sie dies den Rosen zuliebe tun will. Wunderbare Einstellung. Das erinnert mich unweigerlich an die Worte von Angelus Silesius:
„Die Ros‘ ist ohn Warum,
sie blühet weil sie blühet,
sie tracht‘ nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet“.

Wir konnten insgesamt gut für unser inneres Wohlbefinden sorgen und uns wenn nötig abgrenzen: der eigene Camper im Hof war uns zuweilen für kurze Momente ein hilfreicher (und warmer) Rückzugsort. Zudem sorgte der erste Mai für einen entspannten Unterbruch.

Das vergangene Wochenende hatten wir mit einem „Kompensationstag“ zu einem dreitägigen Ausflug verlängert: Villaine-les-Rochers, ein kleines beschauliches Dorf im Departement Indre et Loire, ist in ganz Frankreich als Zentrum der Korbflechterei bekannt. Ein interessantes und sehr anschauliches Museum gibt Einblick in alle Facetten dieses Handwerks. Ein Rundgang durch das Dorf, die teils in Höhlenwohnungen befindlichen Korber-Werkstätten und durch die Haine und Felder mit Korbweiden, lässt die jahrhundertealte Tradition dieses Dorfes lebhaft nachvollziehen. Inspirationen für die zahlreichen Bünde sortierter Weidenruten, die noch zuhause in meinem Schopf lagern. Zur Galerie „Villaine-les-Rochers“.
Von hier aus ging’s weiter nach Tours, der Stadt des heiligen Martins. Park&Ride, per Bus in die Innenstadt, Kathedrale, Museum über das französische Handwerkswesen bzw. über die Handwerker auf der Walz, auf der Tour de France (museum de la Campagnonnage), Museum für zeitgenössische Kunst (CCCOD – centre création contomporaine olivier debré), alles gute Möglichkeiten, der ungewöhnlichen Kältewelle auszuweichen. Wir merkten aber wieder einmal mehr, dass wir nicht für Grossstädte gemacht sind – und zogen am frühen Abend weiter zu einem wunderschönen und ruhigen Stellplatz direkt am Ufer des Cher, im beschaulichen Dorf Savonnières. Von hier aus konnten wir am Montag zu Fuss das nahegelegene Schloss Villandry mit seiner einzigartigen Gartenanlage besuchen. Zur Galerie „Villandry“

Gestern Samstag dann nochmals ein ganz besonderes Ausflugs-Erlebnis: François, der Chocolatier (vom Tag der offenen Tür) hat uns auf eine Randonnée in St.Nicolas-de-Bourgeuil eingeladen. Mit dabei ein befreundetes Paar aus Orléans. Wir treffen uns direkt beim grossen Weingut „la chopiniére du roy“ in St.Nicolas-de-Bourgeuil, dem einzigen Ort in Frankreich, der gleich eine gemeindeweite AOC-Anerkennung (Cabernet Franc) erwirken konnte. (Fazit davon: alle Bauern hatten danach ihre traditionellen Mehr-Sparten-Betriebe sukzessive umgestellt, Gemüse-, Obstbau und Viehhaltung aufgegeben und vollumfänglich auf Rebbau gesetzt. Profit statt Biodiversität.)
Zunächst ein lehrreicher Rundgang durch die riesigen, flachen Weingärten auf ziemlich sandigem Boden. Auch hier sind die Weinbauern mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert und experimentieren mit allerlei Mitteln, wie den zunehmenden Frost-Risiken zu begegnen sei. Jene Felder, die in kritischen Nächten mit Sprühregen berieselt worden sind, weisen deutliche Wachstums-Vorsprünge auf. An einer andern Stelle wurde mit einem gasbetriebenen Windrad experimentiert: dieses wälzt in den kritischen Nächten die oberen wärmeren Luftschichten um (auf 10-15m) und verteilt die wärmere Luft in bodennahe Schichten. Auch hier ein sichtbarer Wachstumsunterschied gegenüber den unbehandelten Zonen.
Nach einem deftigen Mittagessen nach Winzerart und diversen Weinproben konnten wir am Nachmittag einen zweiten Rundgang machen. Am oberen Dorfrand liegen riesige Weinbergflächen am leicht ansteigenden Hang; mittendrinn eine Art „Tunneleinfahrt“. Der Eingang in ein rund 25 Hektaren grosses gemeinschaftliches Kellersystem unter den Weinbergen. In diesen ehemaligen Steinbrüchen wurde jener Sandstein abgebaut, mit dem die zahlreichen Schlösser, Kirchen und Kathedralen der Umgebung errichtet wurden. Unvorstellbar, wieviel Schweiss und Handarbeit allein schon für den Abbbau nötig war. Rund 400 Meter führt der Weg unter den Weinbergen hindurch, bis der Degustationskeller dieses Weinguts errreicht ist. Hier lagern jene Weine, die im Barrique ausgebaut werden. Eine eindrückliche Szenerie … wenn auch die hier gekosteten Weine mir persönlich nicht besonders gehaltvoll und abgerundet erscheinen.
Gegen Abend lädt uns François noch zu einem Apéritif zu sich nach Hause ein. Bei Crémant aus der Gegend von Saumur-Champigny lässt sich wunderbar diskutieren. Das angeregte Gespräch und damit der Apéritif ziehen sich bis nach 21 Uhr hin: einmal mehr ein wunderschönes Erlebnis, wie fünf wildfremde Menschen – allerdings alle in ähnlicher Lebenslage, wir zwei gut sechzig und die andern drei um die siebzig – sich in kürzester Zeit in einem vertrauensvollem Gespräch finden und über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg Gemeinsamkeiten entdecken können. Merci beaucoup, François.

Klar ist: die nächste Etappe wollen wir den Steinbrüchen und Höhlen des Anjou widmen. All dem, was weniger offensichtlich, weniger prunkvoll und meist unter der Oberfläche liegt – und den Prunk der Loire-Schlösser überhaupt erst möglich gemacht hat.


Stimmungsbilder aus dem unteren Loire-Tal

Gedanken bei der Arbeit (bzw. beim Tätigsein)

Renata hat die Gartenbeete und Kieswege vor dem Schloss gejätet. Und ich (Christoph) hatte derweil mehrere hundert Meter Alleebäume und Hecken mit der Motorsense ausgemäht. Das füllte die vier vergangenen Tage komplett (zumindest wenn man diese Arbeiten mit der hierzulande legendären Schweizer Gründlichkeit ausführt). Die Arbeit geht zuweilen in den Rücken; draussen zu arbeiten, mit Natur und Erde in Kontakt zu sein und am Ende des Tages zu sehen, was man geleistet hat, macht aber eindeutig Spass.

Bloss, wenn ich den Eingang um den in den Kalkfelsen gehauenen Weinkeller ausmähen soll, und mir der Kellermeister erklärt „heute sei er der Chef!“, dann sträubt sich (immer noch) etwas in mir. Sei’s denn, aber ich arbeite ja grundsätzlich freiwillig, bestimme selbst und brauche definitiv keinen Chef. „la vie est un piège“, das Leben ist eine Falle …. philosophiert er sogleich, und tatsächlich hat er mich damit an einem wunden Punkt erwischt.
Ich möchte grundsätzlich mit einem „copain“ freundschaftlich zusammenarbeiten, kann mich selbst motivieren (wenn mir das gemeinsame Ziel einleuchtet) und möchte mein eigener Herr und Meister sein und bleiben.

Das führt mich in dieser Ambiance mit aristokratischer Geschichte unweigerlich zur Erinnerung an Madame deMeuron, die legendäre Berner Patrizierin. Ihre berühmte Anrede „Syt der öpper oder nämet der Lohn?“ („Sind Sie jemand, oder beziehen Sie Lohn?“) ist da sehr vielsagend. Existenzrecht und Würde scheint (war) den Einen per Geburt gegeben, die andern mussten ihre Existenzberechtigung mit Lohnarbeit abverdienen.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr scheint mir dies eine verkappte oder moderne Form der Sklaverei zu beschreiben. Ja, wie oft ist die Angst um Einkommen und Existenzsicherung der Grund, weshalb auch an sich ungeliebte oder nicht wirklich überzeugende Arbeiten ausgeführt werden, häufig verbunden mit stillem Groll und einem Klumpen im Bauch.

Einmal mehr meine ich, dass menschliche Würde eigentlich automatisch und per Geburt gegeben ist. (vgl. etwa die Würdekompass-Gruppen, die auf Initiative von Gerald Hüther am Entstehen sind). Daraus folgt das Recht auf Existenzsicherung (bedingungsloses Grundeinkommen) und das Recht eines jeden Menschen, seine Kreativtät, seine Arbeitskraft und seinen Idealismus grundsätzlich freiwillig einzusetzen. Das ist (oder wäre) dann gemeinsames Arbeiten auf Augenhöhe, Soziokratie oder wie man dem auch immer sagen will. Ein dickes Plädoyer für die Freiwilligkeit.

Die bereits erwähnte Madame deMeuron sah dies pragmatisch(er): „Im Himmel sy mir alli glych, aber hie uf Ärde herrscht Ordnig.“ („Im Himmel sind wir alle gleich, aber hier auf Erden herrscht Ordnung.“). Das mag zu ihrer Zeit und aus ihrer Perspektive ja so gewesen sein; zum Glück aber sind wir wieder einige Jahrzehnte weiter in der gesellschaftlichen Entwicklung!

Im Lande der (R)evolution

Vielleicht kommt es doch nicht ganz von ungefähr, dass wir uns vor vier Jahren beim Kauf unseres Camping-Cars für den „Globecar (R)Evolution“ entschieden hatten. Tatsächlich hat der Name schon damals bei mir alte Sympathien hervorgerufen. Eine gewisse Faszination für alles Unkonventionelle hat mich schon immer begleitet. Kommt dazu, dass in diesem Begriff nicht nur von der (oft negativ konnotierten und oft mit Gewalt verbundenen) Revolution die Rede ist, sondern auch gleichzeitig von der Evolution, der immerwährenden und notwendigen Entwicklung (oder Ent-wicklung). Alles ist Bewegung, alles ist Veränderung – und so gesehen ist alles in Entwicklung, auch wenn manchmal vermeintliche Rückschritte augenfällig sind.

Heute – beim Ausmähen der rund dreihundert Meter langen Kastanien-Allee des Schloss-Weingutes – gingen mir viele Gedanken durch den Kopf; einige davon haben mir wohl einen neuen Zugang zu den Grundsätzen der französischen Revolution verschafft.

Liberté – Egalité – Fraternité

Die Gleichheit (égalité) setze ich nun einfach mal voraus. Ob Weinbauer, Schlossbesitzer oder freiwilliger Workawayer, wir alle haben unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Lebenswege, Erfahrungen und Lebens-Aufgaben. Oft wissen wir gar nicht, welche davon sich hinter dem Gesicht eines Gegenübers verbergen. Gleichheit und Gleichwertigkeit gilt für mich einfach ganz grundsätzlich.

Die Brüderlichkeit (fraternité) und sinngemäss natürlich die Geschwisterlichkeit leben wir konkret mit unserem Workaway-Einsatz: etwas Zeit verschenken, in andere Lebenswelten eintauchen und ganz praktisch mit anpacken. Derzeit gibt es ja gerade wieder einige neurobiologische Studien und Filme, die die These untermauern, dass Menschen grundsätzlich auf Altruismus gepolt seien. Ja tatsächlich, es macht Spass, etwas Sinnvolles (Not-wendiges) zu tun, irgendwo mitzuwirken und dabei zu spüren, dass der eigene Einsatz geschätzt wird und jemandem tatsächlich Freude bereitet.

Und über all dem die Freiheit (liberté), in meinem Fall die grandiose und unermesslich wertvolle Freiheit, einfach das zu tun was Spass macht, mich dort einzusetzen wo ich unmittelbar Sinn stiften kann …. und mich auch zu verabschieden, wenn mir diese zentralen Bedingungen meiner selbst nicht mehr gegeben scheinen. Wer Zeit und Arbeit verschenken kann, ist tatsächlich „sein eigener Herr und Meister“.

Ob solcher Gedanken kommt mein Idealismus bereits wieder in Fahrt; wann wohl kommt es in der Schweiz zu einer zweiten Abstimmung über das „bedingungslose Grundeinkommen“? Ich meine zu erahnen, dass dies eine zentrale Grundlage von „Liberté – Egalité – Fraternité“ und damit tatsächlich (r)evolutionär sein könnte.

Tag der offenen Tür im Schloss-Weingut

Woche 5 / (18.) 22. April bis 28. April 2019

In St.Germain-sur-Vienne werden wir auf dem Schloss-Weingut „Château du petit Thouars“ erwartet (Link führt zur Bilder-Galerie). Schon die Zufahrt ist ein Eintauchen in eine neue Welt, der Kiesweg führt von der Strasse weg, durch die Kastanien-Allee in dichtes Grün. Nach einigen Kurven taucht ein prächtiges Kalkstein-Gebäude auf, welches eine grosse Lichtung überragt. Soweit das Auge reicht bloss Wald in den zartesten Farbnuancen des beginnenden Frühlings: hellgrün, dunkelgrün, graugrün, gelblich, grün mit leichtem Braunton, eine schier grenzenlose Palette. Ebenso beeindruckend das dichte Gewirr unzähliger Vogelstimmen. Noch am ersten Abend beobachten wir aus dem Zimmerfenster Feldhasen und eine Fasanen-Familie (Vater, Mutter und zwei Töchter), die hier ganz offensichtlich heimisch sind. Der Fasan wehrt mit seinem durchdringenden hustenähnlichen Krächzen ab und zu ein paar aufdringliche Krähen ab.

Die junge Familie, die dieses Schloss bewohnt, empfängt uns herzlich und völlig offen. Wir können unser Zimmer im ehemaligen Bediensteten-Haus gleich nebenan beziehen. Unübersehbar, dass uns hier eine von Improvisation und Spontaneität geprägte Welt erwartet. Zwei junge Frauen aus Deutschland, eine Workawayerin und eine 23-jährige Studentin, die als AuPair für die Kinderbetreuung zuständig ist, sind seit Anfang April hier und geben uns eine erste Einführung in die Gepflogenheiten. Gekocht wird vom Chef des Hauses persönlich, man wisse aber nie so genau, wann dies der Fall sein wird: auf jeden Fall sollte man sich darauf einstellen, dass das Abendessen nicht vor 21 Uhr beginne … das Mittagessen wohl frühestens um 13.30 Uhr und das Frühstück … na ja. Arbeitsbeginn sei jedenfalls nie vor 9.30 des nächsten Morgens.

Überraschend ist für uns dann das erste Diner: es dauerte von ca. 21.30 bis ca. 23.30 Uhr. Am Tisch sind auch zwei Freunde des Hauses, ein englischer Parlamentarier (Tory, erklärter Freund Frankreichs und Brexit-Gegner) und seine Verlobte, ihres Zeichens Direktorin des königlichen Shakespeare-Theaters in London. Wir sitzen an einem riesigen ovalen Esstisch, in einem alt-ehrwürdigen Esszimmer in Eichen-Furnier-Ausstattung, umgeben von lauter opulenten Ölgemälden (14 Repliken des Medici-Zyklus von P.P.Rubens, deren Originale im Louvre in Paris hangen) an den Wänden. Das Haus atmet mehrere hundert Jahre adliger Familiengeschichte. Nachdem die Eltern gestorben sind, hat das junge franko-kanadische Paar mit den zwei (bald drei) kleinen Kindern das Anwesen übernommen: wohl Lust und Last zugleich. Das mondäne Leben in Paris gegen ein Landleben in (aristokratischer) Natur-Idylle am Rande der (Welt) Vienne einzutauschen ist wohl nicht ganz ohne.

Nun, die Weltoffenheit scheint nicht abhanden gekommen zu sein; am Tisch wird bunt durcheinander englisch-französisch und deutsch gesprochen. Die Themen wechseln zwischen Essen, HipHop,  britischer Politik, Musik und altehrwürdiger Familiengeschichte. Und auch die Tatsache, dass hier regelmässig AuPair’s und WorkawayerInnen mit am Tisch sitzen, zeugt von Offenheit und Vertrauen.

Nach ersehnter und später Nachtruhe sind wir den ganzen Freitag über eifrig im Einsatz: Rasenmähen, Putzen, Einrichten, Aufräumen. Zusammen mit dem Kellermeister (maitre de chai) Michel und seinem Gehilfen Philippe beteiligen wir uns an den letzten Arbeiten vor dem Tag der offenen Tür. Damit entsteht in kürzester Zeit ein solidarischer Boden, eine gemeinsame Vertrautheit.

Als am Samstag die ersten Aussteller anreisen, gehören wir schon richtig dazu. Guy, der Fouée-Bäcker bereitet Unmengen von Teig, die er während der drei Tage am Holzofen verbacken wird. Fouées sind kleine Teig-Rondellen, die sich im Holzofen in kürzester Zeit aufblähen: aufgeschnitten und gefüllt ergibt sich daraus ein wunderbares Häppchen in zig Varianten: mit Blutwurst, Kräuterkäse, Ziegenkäse, Nutella, Crème Caramal salé, Aprikosen-Konfitüre und vielem mehr lässt sich diese landestypische Spezialität füllen. François, der pensionierte Patissier (Président de la Tour de France des Patissiers) wird während der drei Tage seinen Stand mit Schokolade-Spezialitätern betreuen und vor dem Publikum allerlei Formen giessen. Jean-François, der pensionierte Mitarbeiter der benachbarten „centrale nucleaire EDF“ (Atomkraftwerk) ist heute passionierter Bienenzüchter. Er vermittelt sein breites Wissen über die Welt der Bienen – und verkauft dabei seinen eigenen Honig und ein schmackhaftes „pain d’épices“. Guy, der Steinmetz, sitzt mit verschmitzt lachender Miene vor dem Gewölbekeller an seinem Steinmetz-Tisch und verarbeitet mit Klöppel und Meissel den weichen weissen Tuff-Kalkstein der Gegend. Véronique bietet ihren einzigartigen Ziegenkäse aus der Region an und Brian, der Kleinbrauer mit englischen Wurzeln, bietet ein ausgezeichnetes bitter-hopfiges Dunkles zum Verkauf an. Michel, der Kellermeister (und Strippenzieher des Tages), hat ein ausgedientes Weinfass so ausgeschnitten und hergerichtet, dass es als Räucherkammer taugt. Darin werden zwei Schweins-Medaillons vor Ort geräuchert. Ein altes aufgeschnittenes Ölfass dient als Barbecue-Grill. Michel – er selbst kein Kost-Verächter – ist sehr darauf bedacht, dass alle Aussteller und Helfer ein gebührendes Mittagessen erhalten. Das wird sich an allen drei Tagen (der offenen Tür) als Zentrum und Kristallisationspunkt erweisen: die herzliche Atmosphäre, die gegenseitige Hilfsbereitschaft, das humorvolle Miteinander und das fach- und landes-übergreifende Interesse finden hier ihre Mitte. Wir fühlen uns bestens aufgehoben und akzeptiert in dieser fröhlichen Runde.

Renata engagierte sich durch all diese Tage hindurch im „Backoffice“, im Nachschub sauberer Weingläser wie auch in der fürsorglichen Unterstützung der Mitarbeitenden mit Kaffee. Christoph war verantwortlich für Paketierung und Auslieferung der Weine. Drei Tage der Wein-Degustation im originellen Gewölbekeller, von Ostersamstag bis Ostermontag ein Kommen und Gehen, Touristen, Einheimische, Nachbarn, Freunde: eine quirlige bunte Welt mit zahlreichen Oster-Überraschungen.

Am Dienstag ging dann der Alltag los. Renata war hauptsächlich am Jäten im Blumenbeet vor der Schloss-Fassade und Christoph war derweil mit der Motorsense unterwegs. Es galt die Strassenränder zu mähen, zwischen Rosen und Bäumen auszumähen, das Wegbord zu roden etc..


Augenfällig geht es hier (für uns einmal mehr ;-)) um das Spannungsfeld zwischen SEIN und SCHEIN. Viel Energie soll darauf verwendet werden, den Gästen des Schlosses bzw. des Weinkellers einen aufgeräumten ersten Eindruck zu vermitteln …. während beim zweiten Blick in Küche, Büro und hinter die Fassade das „ganz normale Chaos“ sichtbar wird. Na ja, unsere Themen (hat da jemand „Perfektionismus“ gesagt??) holen uns immer wieder ein. Für uns (als SchweizerIn?) ganz offensichtlich ein riesiges Übungsfeld in Toleranz und Grosszügigkeit. Schliesslich wird vieles aufgewogen durch grosse Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Offenheit; dies alles verbunden mit unzähligen Sprüchen, hintersinnigen „jeu de mot’s“ (Wortspielen) und purer Lebensfreude.

Es sei nicht verschwiegen, dass wir jeden Abend ausgezeichnet essen und sämtliche Weine des eigenen Kellers grosszügig ausprobieren können. Auf die Frage, ob er mal eine Ausbildung als Viticulteur oder Sommelier genossen habe, antwortet der Patron eindeutig: es gehe alles über die eigene Erfahrung, soviel wie möglich ausprobieren, von allerlei Weinen kosten, Länder und Produktionsweisen vergleichen, zuhören … und neugierig weitere Erfahrungen sammeln.

Die Tage unserer Ankunft auf dem Schloss-Weingut sind teilweise noch geprägt von der Brand-Katastrophe in der Notre-Dame von Paris. Respektvolle Bemerkungen … aber auch Witz und zuweilen gar Sarkasmus sind spürbar. Die Menschen um uns wirken jedenfalls nicht schockiert oder besonders betrübt. Das Leben scheint weiter zu gehen….

Uns drängt sich dabei immer wieder die Frage auf, wie denn heutzutage mit „Zeugen der Geschichte“ umzugehen sei. Von wann bis wann gilt etwas als Geschichte? Wann ist der Zeitpunkt bzw. was ist der Grund, dass gewisse Dinge und Zustände richtiggehend eingefroren werden (sollen)? Gehört nicht manchmal auch eine (teilweise) Zerstörung essentiell zur Geschichte? Weshalb besuchen Touristen am einen Ort Ruinen (z.B. die Akropolis von Athen), während andernorts möglichst naturgetreue Repliken als Touristenmagnet herhalten müssen? Weshalb ist der Erhalt oder Wiederaufbau von Nationalsymbolen wichtiger als die soziale Wohlfahrt aller BürgerInnen?

Es mag Fragen geben, die nicht (sofort) beantwortet werden müssen.

Guédelon – sie bauen eine Burg (living-history)

Text-Beitrag siehe Woche 3

Woche 4 / 15.- 18. (21.) April 2019

Am Montagmorgen verlassen wir den super schönen Stellplatz von La Chapelle-Saint-Mésmin bei sehr windigem und immer noch kühlem Wetter. Bereits nach 20km der erste Halt in Beaugency: der angegebene Stellplatz am Loire-Ufer ist aufgehoben oder nur saisonal zugelassen (ev. ab Mai). Während wir noch um einen Parkplatz werweissen, kommen bereits Marlis und Heinz mit ihren Rädern ums Eck: Der pure Zufall ermöglicht uns einen gemeinsamen Ortsrundgang mit anschliessendem Kaffee am Dorfplatz. Danach besichtigen Renata und ich noch die sehenswerte romanische Kirche St.Maurice; das Wetter klart auf, die durch das Glasfenster fallenden Sonnenstrahlen zaubern ein buntes Farbenspiel auf Renatas Gesicht. Danach fahren wir zum Einkauf und dann zu unserem Logis: die Ferme de l’Isle in Avaray bietet für Marlis und Heinz ein B&B für die kommenden zwei Nächte und für uns einen super ruhigen Stellplatz im Innenhof des grossen Landwirtschaftsbetriebs. Die Abendsonne lässt die versprochene Wetter-Besserung bereits erahnen: wir geniessen den Apéro zwar noch in Jacken, aber doch schon im Garten. Danach dürfen wir den rustikalen Aufenthaltsraum im ehemaligen Pferdestall nutzen, um uns ein festliches Essen zuzubereiten. Genussvolles Dinieren am grossen Cheminée.

Für Dienstag ist Regenwetter angesagt, weshalb wir zu viert im Camper nach Schloss Chambord fahren. Dieses Schloss beeindruckt uns alle mit seiner einzigartigen Architektur, besonders die monumentale zentrale Wendeltreppe, welche in der Form einer Doppel-Helix angelegt ist und sämtliche Stockwerke erschliesst. Hier kann man gleichzeitig aufwärts und  abwärts unterwegs sein, ohne sich zu begegnen. Die geniale Grundidee zu dieser Treppe wird Leonardo da Vinci zugeschrieben, welcher in seiner letzten Lebensphase angeblich am Hofe des Königs Franz 1. in Amboise gelebt haben soll. Die Schloss-Besichtigung ist auch in museums-didaktischer Hinsicht äusserst zeitgemäss und sorgfältig konzipiert, eine hilfreiche animierte Video-Präsentation lässt die Gesamtidee der Gebäude, aber auch deren Entwicklungsphasen durch die verschiedenen Epochen sehr eindrücklich nachvollziehen. Inspiriert und angeregt fahren wir anschliessend weiter nach Blois, wo ein Stadtrundgang den Ausflug abschliesst. In der Kathedrale von Blois treffen zufällig gerade die letzten Chormitglieder ein zur letzten Probe vor den Oster-Feiertagen. Eine lebhafte und temperamentvolle Einstimmung. Die Jardins de l’Evèchée, die Gärten des Bischofssitzes sind gleich daneben angelegt, erinnern in ihrer Anlage und mit ihrer super Aussichtslage an die Münsterplattform in Bern. Der Rosengarten hat vereinzelte erste Blüten; in gut einem Monat wird er bereits in voller Pracht erstrahlen. Anschliessend fahren wir zurück zu unserer Ferme und geniessen das erste Spargel-Menu der Saison, mit Spargeln aus der Sologne.

Der Mittwoch bringt den ersehnten Wetter-Umschwung, ist aber bereits auch schon der Tag des Abschieds von Marlis und Heinz. Sieh fahren per Rad den Loire-Weg weiter nach Chateauneuf-sur-Loire, während Renata und ich kreuz und quer durch die Sologne kurven. Diesmal bei Sonnenschein passieren wir nochmals beim Chateau de Chambord, dann ein kurzer Blick von Aussen auf Schloss Chauvency und das umgebende Dorf. Mittagspause in einem lichten Buchenwald, dann spazieren wir um das als Wasserschloss angelegte „Chateau du Moulin“, welches still und abgelegen den Charme eines – sympathisch bescheidenen – Dornröschen-Schlosses ausstrahlt, weit ab von den Touristen-Massen. Wir entfernen uns mit dieser Fahrt zunächst von der Loire, queren das Tal des Cher und wechseln ins Tal des Indre. Den Stellplatz für die Nacht finden wir im wunderschön gelegenen anmutigen und geschichtsträchtigen kleinen Ort Montrésor. Das Dorf schmiegt sich an die Burgfelsen einerseits und an die Ufer des Indrois anderseits, ein beschaulicher kleiner Wiesenfluss, – wie es der Name schon sagt, der kleine Bruder des Indre. Der Ort fungiert unter den schönsten Dörfern Frankreichs, pflegt sein Erbe bewusst und ist dennoch authentisch und sympathisch geblieben. Vom idyllischen Uferweg am Indrois aus lässt sich das abendlich erleuchtete Kulisse des Orts wunderbar geniessen; und das Vogelkonzert, Enten, Fledermäuse und gar ein Biber komplettieren das abendliche Erlebnis.

Am Donnerstag besuchen wir die nahegelegene Ortschaft Loches am Indre. Auch hier eine beeindruckende Oberstadt mit mehrteiliger Schloss-Anlage und wunderschöner Aussicht. Der pulsierende Ort ist bekannt für seinen Tuffstein-Steinbruch, welcher in seiner äusserst feinen Struktur von Bildhauern sehr geschätzt wird. Mehrere Stellplätze. Nachmittags Weiterfahrt ins Tal der Vienne und schliesslich zu „unserem Schloss-Weingut“, wo wir für gut zwei Wochen unseren ersten grösseren Workaway-Einsatz absolvieren werden.

In St.Germain-sur-Vienne werden wir auf dem Schloss-Weingut „Château du petit Thouars“ erwartet. Schon die Zufahrt ist ein Eintauchen in eine neue Welt, der Kiesweg führt von der Strasse weg, durch die Kastanien-Allee in dichtes Grün. Nach einigen Kurven taucht ein prächtiges Kalkstein-Gebäude auf, welches eine grosse Lichtung überragt. Soweit das Auge reicht bloss Wald in den zartesten Farbnuancen des beginnenden Frühlings: hellgrün, dunkelgrün, graugrün, gelblich, grün mit leichtem Braunton, eine schier grenzenlose Palette. Ebenso beeindruckend das dichte Gewirr unzähliger Vogelstimmen. Noch am ersten Abend beobachten wir aus dem Zimmerfenster Feldhasen und eine Fasanen-Familie (Vater, Mutter und zwei Töchter), die hier ganz offensichtlich heimisch sind. Der Fasan wehrt mit seinem durchdringenden hustenähnlichen Krächzen ab und zu ein paar aufdringliche Krähen ab.

Über die Erfahrungen im Schloss-Weingut gibt’s beizeiten einen eigenen Beitrag.