Gent – eine Stadt pulsiert

Während unseres Workaway-Einsatzes in Belgien verbringen wir ein Wochenende in Gent. Beim Yacht- und Ruderclub finden wir einen passenden kostenlosen Stellplatz; von da aus ist man in rund 30 Minuten zu Fuss in der Innenstadt (mit Google-Maps als Führerin). Diese langsame Art der Annäherung passt uns ganz gut, so kriegen wir bereits etwas mit vom „normalen Leben“ in dieser Universitätsstadt. Unübersehbar die vielen Studenten, jungen Menschen, Kinder, Mütter und Väter mit Cargo-Bikes – voller Gepäck, Marktgemüse und kleiner Knirpse. Aber auch ältere Menschen mit Rollatoren oder Hündchen, im Gespräch auf der Gasse; die Stadt macht uns von Beginn weg einen lebhaften, geselligen und relaxten Eindruck. Und dann die vielen kreativen Fassaden, die liebevollen Details an den Hauseingängen, die sichtbare Liebe für Flohmärkte und gebrauchte Artikel: aus Tasse und Unterteller etwa wurde ein persönlicher Vogel-Futterplatz über dem Türeingang.

Viele junge Restaurants, viele Lokale mit (ausschliesslich) vegetarischem Angebot, viele Tischchen auf der Strasse. Einige Lokale werben mit Foodsharing, meinen damit aber offensichtlich nicht das kostenlose Teilen von Mitgebrachtem oder das kostengünstige Gericht aus Lebensmitteln, die vor dem Ablaufdatum stehen. Hier meint Foodsharing, dass an einem grossen Gemeinschafts-Tisch gegessen wird und dass es zum Konzept gehört, voneinander bzw. vom Teller der Nachbarn zu probieren.

Das touristische Gent ist bunt, laut und voll wie in vielen anderen Städten auch. Die gemütlichen Hausfassaden, das verwinkelte Stadtbild und die zahlreichen Kanäle lassen aber eine besonders heimelige Stimmung entstehen; mir kommt es zuweilen vor wie in einer grossen übervollen Stube. Und das allgegenwärtige Wasser lässt einen unweigerlich an Venedig denken, nur kleiner, überschaubarer … und schöner.

Die malerischen Winkel, die vielen geschichtsträchtigen Gebäude und die gemütlichen Bierlokale lohnen einen Rundgang auf jeden Fall. Wenn der Besuch – wie bei uns – auf einen schönen Vorsommer-Samstag fällt, dann ist es besonders lebhaft. So schätzen wir es, am vergleichsweise stillen Sonntagvormittag ein zweites Mal durch die relativ leeren Gassen zu schlendern. Diesmal nähern wir uns von Süden her und besuchen vor allem jene Punkte, die am Rande der historischen Altstadt oder gar etwas ausserhalb liegen. Hier glauben wir, dem gewöhnlichen und wirklichen Gent zu begegnen: Flohmarkt entlang einer alten und mit endlosen Graffitis besprayten Klostermauer; Boule-spielende Männer, Spielplätze mit Kinderlachen, junge Leute die in einer Parkanlage ein grosses PicNic vorbereiten, Quartier-Plätze mit Urban-Gardening-Einrichtung, eine Klosterruine als interkultureller Begegnungs- und Konzertort, Kanäle mit fest verankerten Wohnschiffen (und auf diesen idyllische Gärtchen, Liegestühle, Hängematten und Tibetfähnchen), ein Bücher-Tauschmarkt, Gartenbeizen. Und zwischen all dem viele Menschen zu Fuss, mit Kinderwagen, mit dem Velo unterwegs. Ein Ort zum Wohlfühlen.    

Gent in Bildern

Wenn man von Gent spricht, dann ist der Ausdruck der „Gentrifizierung“ nicht weit. Ich wollte das mal genauer wissen und fragte bei Wikipedia nach: Als Gentrifizierung (von engl. gentry „niederer Adel“), auch Gentrifikation, im Jargon auch Yuppisierung, bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter als vorher und deren anschließenden Zuzug. Aus <https://de.wikipedia.org/wiki/Gentrifizierung>

Gentrifizierung hat also etymologisch gesehen nichts mit der Stadt Gent zu tun, was nicht heissen will, dass diese Stadt davor gefeit wäre. Die erfolgreiche Modernisierung und Vitalisierung einer Stadt bringt wohl zwangsläufig solche marktliberale Tendenzen mit sich. Der hohe Anteil an Studenten und studentisch geprägten jungen Familien mag dem vielleicht ein wenig entgegen wirken. Hoffentlich.

Gent in Bildern

Wochen 13 und 14 / 17.-29.Juni

Unsere ersten Eindrücke in Belgien: eine weite und flache Landschaft, ideal zum Velofahren; freundlich grüssende Menschen mit zuvorkommender Sympathie gegenüber RadfahrerInnen. Aber auch Schnellstrassen mit hektischem Verkehr, abenteuerlichen Abzweigungen – Kreisverkehr scheint hier noch wenig verbreitet zu sein – und dichtem Lastwagenverkehr auch an Wochenenden. Auf dem Land rumpelt es zuweilen noch beträchtlich auf Abschnitten mit Betonplatten-Strassen oder gar mit rustikalem Kopfsteinpflaster. Dann die vielen Einfamilienhäuschen mit den akkurat gepflegten Vorgärten, die Rasenflächen mit Bürstenschnitt, farblich sortierte Blumen in Reih und Glied und Gartenzwerge die stramm stehen. Ausgewanderte Schweizer? Viele kleinere Dörfer und Wohnsiedlungen wirken etwas ausgestorben, wenn auch sehr gepflegt.

Unser Workaway-Einsatzort stellt demgegenüber ein absolutes Kontrastprogramm dar. Der ehemalige Bauernhof wurde die letzten 25 Jahre über als Bed&Breakfast und Ferienort für Familien betrieben, ein sehr vielfältiger Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere. Je nach Standpunkt ein paradiesischer Ort, ein Garten Eden, ein Abenteuer-Spielplatz, ein Urwald oder ein unübersichtliches Durcheinander. Das meernahe und doch warme Klima begünstigt ein üppiges Wachstum; da ist es eine ständige Herausforderung, die Balance zwischen Natur und Kultur zu schaffen bzw. naturnah zu Gärtnern ohne zu verwildern. Die gewährende (passive?) Haltung gegenüber allem was Früchte trägt oder tragen könnte hat etwas Grosszügiges und Einladendes; der Tagesablauf ist von Gelassenheit und Ruhe geprägt. Jedoch fiel es uns zuweilen nicht leicht, darin den „roten (oder besser grünen?) Faden“ zu sehen bzw. die gestaltende Absicht zu erkennen und die ordnende Hand zurückzuhalten. Viele Impulse zur Selbst-Reflexion jedenfalls .
Welches Leitbild des Gärtners gilt bzw. trägt wohl? Sagt die Gärtnerin den Pflanzen, wo’s durchgehen soll bzw. was wo wachsen darf …. oder ist es vielmehr der Gärtner, der sich dem Wachstumswillen der Pflanzen unterzuordnen hat und höchstenfalls kluge und minimale Eingriffe vornimmt? Eine einfache und allgemeingültige Antwort darauf gibt es wohl nicht. Beide Positionen scheinen situativ angemessen …. und können – absolut verstanden – in Erstarrung oder Chaos führen.

Auch in Belgien kann es sehr heiss sein: während die Durchschnitts-Klimatabelle für den Monat Juni von 21 Grad sprach, vermelden die Meteodienste derzeit zwischen 28 und 35 Grad. Tatsächlich aussergewöhnlich. Zum Glück kennt Belgien eine hochstehende Bierkultur: wir können unzählige Abtei-Biere in allerlei Varianten ausprobieren.

Ein Fahrrad-Ausflug nach Brügge lässt uns eine malerische Stadt mit vielen Kanälen – und Touristen – entdecken. Für Museen ist es zu warm, das Flair in den Gassen ist aber alleweil sehenswert und dem Auge bzw. der Kameralinse bieten sich viele schöne Blickwinkel an.

Am Wochenende steuern wir frühzeitig den Stellplatz beim Yacht- und Kanuklub in Gent an. Diese ebenso malerische, quirlige und bunte Stadt begeistert uns. Man spürt allenthalben die Kreativität und Experimentierfreude in dieser studentisch geprägten Universitätsstadt. Unzählige Plätzchen und Winkel um sich aufzuhalten, auszutauschen, zu sinnieren und flanieren. Gent hat den Donnerstag zum städtischen Vegi-Tag erklärt und sich damit zur Vegi-Hauptstadt Europas gekürt. Eine gute Sache, die – wenn aus Sicht der katholischen Tradition überhaupt nicht neu und bloss einen Tag vorverschoben – offenbar das nötige Sex-Appeal hat und einen unerhörten Marketing-Effekt erzielt. Sympathisch allemal, dass es hier so viele kleine, kreative und persönlich geprägte Vegi-Restaurants gibt. Während wir am Samstag inmitten unzähliger Touristen die malerischen Gassen und Kanäle abschreiten und wirklich originelle Gebäude sehen, bietet der Sonntag dann ein authentisches Gent in den Aussenquartieren: Flohmarkt, Quartierbeizen, eine Musik-Veranstaltung des städtischen Integrationsbüros mit Migranten – und in den Ruinen der Sint-Baafs-Abtei erleben wir dann ganz zufällig noch ein aussergewöhnliches Konzert aserbeidschanischer Musiker: die Botschaft Aserbeidschans hat offenbar etwas zu feiern und gibt deshalb für Landsleute und Bevölkerung dieses Konzert. Wieder mal so ein besonderer Zu-Fall.

In der zweiten Woche arbeiten wir wiederum morgens unsere 4-5 Stunden im Garten: Triebe ausbrechen bei den Weinreben (ja, die gibt es hier, sowohl im Tunnel als auch im Aussengelände), Beeren ablesen, Jäten; und Christoph ist wieder beschäftigt mit Mähen und mit dem Ausroden unzähliger Quadratmeter Dickicht zwischen Feigenbäumen, Reben, Beeren und Hühnerstall; das lässt zuweilen an Sysiphus denken. Spätnachmittags folgen dann kleine Ausflüge, etwa in die holländische Polderlandschaft an der Wester-Schelde. Hier ziehen im Abenddunst unzählige Frachter, Fähren und andere Riesenschiffe vorbei, die meisten mit dem Ziel zum Hochseehafen Antwerpen oder ins Industriegebiet von Gent.

Ein anderer Ausflug führt in das Naturschutzgebiet ZWIN; ehemaliger Luftwaffen-Flugplatz der deutschen Besatzer und Waffen-Standort im Atlantik-Wall während des zweiten Weltkriegs. Heute ein grosszügiges Naturschutzgebiet, ein moderner digitalisierter Ausstellungsort (dank Webcam und Virtual Reality müssen die Schüler nicht mehr unbedingt nach draussen in die Natur, um Beobachtungen zu machen … ???) und die Lagune bzw. Polderlandschaft ist zweifellos ein beliebtes Ferien- und Durchreise-Ziel für Vögel. Hier gibt es die wenigen Kilometer natürlicher Strand an der ansonsten weitgehend verbauten belgischen Küste. Das sei anscheinend nachvollziehbar, wenn man bedenke, dass ein ganzes Land mit 92 km Küstenlinie auskommen muss. Was soll da die Schweiz dazu sagen …?

Bei feinem Essen aus dem eigenen Garten und selbstgekeltertem Wein ergeben sich mehrere interessante Tischgespräche mit unserer Gastfamilie. Die Gespräche über Ökologie, Reisen, Politik etc. lassen auch noch andere Dimensionen von Belgien erahnen: das Land schlägt einen neuen Rekord mit mittlerweile 557 Tagen ohne gewählter Regierung. Die politischen Lager und damit auch die Gräben zwischen Wallonien (fanzösischsprechender Süden) und Flandern (flämisch/holländisch sprechender Westen und Norden) und deutsch sprechender Minderheit im Osten scheinen derzeit besonders tief und werden durch die (symbolische) Monarchie bloss noch notdürftig zusammenghalten. Das Völkergemisch in diesem „Scharnier-Staat“ scheint mit latenten Konflikten zwischen „reichem Norden“ und „armem Süden“ ständig beschäftigt zu sein. Nicht gerade eine Vorbildfunktion für das von Interessenkonflikten gebeutelte Europa – trotz EU-Sitz.

Woche 12 / 10. – 16.Juni

Am Pfingstsonntag verabschiedeten wir uns im Caillou Blanc. Der Weg führte uns via Pleyben (mit seinem berühmten “ enclos paroissial“, der Einheit von Kirche, Triumphtor, Beinhaus und „calvaire“) nach Huelgoat. Mitten im „Parc régional de l’armorique“ und inmitten einer riesigen urtümlichen Wald-Landschaft liegt dieser Ort an einem idyllischen Waldsee. Unser Besuch hier ist allerdings von grauen Wolken und heftigen Regengüssen geprägt. Für uns wird plastisch nachvollziehbar, weshalb die Bretagne eine derart grüne Landschaft ist …. Die geradezu mystisch anmutende Felsen-Schlucht bei Huelgoat konnten wir in einer Regenpause durchwandern. Eindücklich.

Die Nacht verbrachten wir dann bereits an der Côte du granit rose, zwar einige Kilometer hinter der Küste beim Stellplatz des Parc Randôme, dafür mit einem überraschenden Konzert gleich nebenan.

Tags darauf die Küstenwanderung im Vogelschutzgebiet der Ile Grande; der Zugang zu dieser im vorderen Teil recht dicht besiedelten Insel ist in der Regel über eine Furt möglich, bei Flut und hohem Gezeiten-Koeffizienten ist die Zufahrt dann jedoch stundenweise überflutet. Natürliche Verkehrs-Regulation.

Am diesem Pfingstmontag wage ich mich – bei herrlich dramatischem Wolken-Szenario und kühlem Wind – zum zweiten Mal ins Meer, an der Plage de la Grève Blanche bei Trécastel. Bei 16 Grad lässt es sich schon angenehm schwimmen. Da die Wetterprognose schlecht ist, steuern wir den Campingplatz „les 7 îles“ in Port l’Epine an. Direkt am Meer mit Blick nach Westen „vertäuen“ wir uns in Erwartung des angesagten Sturms. Dieser kommt zuverlässig, zerrt und schaukelt an unserem Bus während der Nacht … und gewährt uns anschliessend einen ausgiebigen Regentag mit Zeit zum Whatsappen und Blog nachführen. Im späten Dienstag-Nachmittag wagen wir dann den Aufbruch …. und siehe da, auch der Himmel reisst auf. An der „Bilderbuch-Küste“ der Pointe du Château bei Le Gouffre ergibt sich ein wunderschöner Strand-Spaziergang in malerischer Landschaft; wieder ein Stück auf dem Sentier des douaniers. Der Stellplatz am Bois du poète in Tréguier bietet uns eine ideale Übernachtungsmöglichkeit, direkt am Fluss der hier noch deutlich vom Gezeitenstand geprägt ist. Das Städtchen Tréguier nimmt uns sofort „den Aermel rein“: das sehr schöne und kompakte Gesicht der Stadt, etwa bei Kathedrale und Marktplatz, das warme abendliche Sonnenlicht, bezaubernd. Es sind aber auch die zahlreichen originellen und unkonventionellen Dekors und Kulturplakate, Zeichen und Sprüche, die bei uns den Eindruck einer quirligen Stadt mit vielen kreativen Menschen hinterlassen.

Der Mittwoch beginnt wieder mit Regen; somit verzichten wir auf den Marktbesuch und fahren gleich ein grosses Stück weiter nach Osten: Mittagshalt mit Muschel-Essen in Binic. In Dol-de-Bretagne eine Ruhepause mit Besuch der Kathedrale und des Museums: das Cathédraloscope hat den Anspruch, mit modernen Mitteln darzustellen, unter welchen Bedingungen die Kathedralen seinerzeit erbaut worden sind. Nun, die Werbung hat meines Erachtens mehr versprochen als geboten wurde: das Museum hat mir nicht besondere Neuigkeiten erschlossen. Aufschlussreich war allerdings der mehrfache Hinweis, dass die Kathedralbbauten meist Kollabborationsprojekte weltlicher und kirchlicher Mächte waren, und dass die Zünfte die damaligen MEGA-Projekte wohl auch als willkommene Arbeitsbeschaffung sahen. Das 12. und 13.Jahrhundert wird in diesem Kontext als prosperierendes und *reiches“ Zeitalter dargestellt.

So eingestimmt übernachten wir auf dem sympathischen Stellplatz La Bidonnière in Ardevon, mit direktem Blick auf den Mont St.Michel. Den ganzen Donnerstag verbringen wir sodann um und auf diesem eindrücklichen Klosterberg. Wenn auch touristisch übersteuert, so bleibt die einmalige Lage und die bauliche Geschiche dieses Ortes doch einzigartig. Wir lassen uns viel Zeit, die Atmosphäre zu erfahren und nehmen mittags am Gottesdienst teil: eine kleine aktive Gemeinschaft von Nonnen und Mönchen belebt das Kloster des Mont St.Michel wieder. Eindrücklich auch das Spiel der Gezeiten um diesen Hügel und die endlose Weite des Strandes bei Ebbe. Abends ziehen wir weiter an die gegenüberliegende Küste, wo uns Park4night einen wunderschön einsamen Stellplatz in den Dünen von Génets empfahl, mit direktem Blick auf den Mont St.Michel und endlich auch mit einer sonniger Morgenstimmung.

Freitags die Weiterfahrt nach Bayeux, wo Renata die weltberühmte gestickte Tapisserie besichtigt; auf einem 70 Meter langen Band ist die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer dargestellt. Anschliessend erreichen wir den eindrücklich gelegenen Natur-Stellplatz direkt über der Steilküste in Longues-sur-mer. Schon sonderbar, dass die Eroberungs- und Kampf-Geschichten an dieser Küste derart präsent sind; es ist wohl dem aktuellen Jubiläumsjahr des Débarquement zuzuschreiben, dass die Bunker-Anlagen aus dem zweiten Weltkrieg derzeit so stark besucht werden.

Am Samstag dann die grosse Etappe an die Aermelkanalküste bei Ambleteuse, wo wir auf einem Pferdezuchthof einen idyllischen Stellplatz mit herrlicher Sicht auf Meer und Dünen vorfinden. Die „dunes de la slack“ bieten herrliche Spaziergänge und lassen nachvollziehen, wie fragil die Vegetation hier ist. Etwas wehmütig verlassen wir am Sonntagnachmittag diesen schönen Platz. Die Fahrt entlang der normannischen Opal-Küste und zum Cap du Nez Gris bezaubert uns erneut und lässt erstmals die Lust aufsteigen, später auch mal die Küsten Englands und Irlands zu besuchen; zumal wir hier, an der engsten Stelle des Aermelkanals die Felsen der englischen Küste schwach erkennen können. Anschliessend geht es in flotter Fahrt weiter nach Belgien, wo uns am Montag unser nächster Workaway-Einsatz erwartet.

Was bleibt …. ist die Liebe

Es dürfte 1977 gewesen sein, als ich 19-jährig meine erste Reise alleine per Autostopp durch Frankreich unternahm. Die Reisestrecke ergab sich damals aus den Mitfahrgelegenheiten: Saarbrücken, Metz, Caen in der Normandie, Bayeux, Mont St.Michel, Binic in der Bretagne, Saint Brieux, Paris, Dijon, Taizé … so etwa die Etappenziele. Was mir besonders in Erinnerung blieb, nebst den üblichen Sehenswürdigkeiten? … In Binic ass ich die ersten Langoustines meines Lebens; vom Kellner musste ich mir erklären lassen, wie man diese isst. Im Hintergrund lief ein französischer Chanson, der damals gerade hoch im Kurs war: „Prendre un enfant par la main“ von Yves Duteil. Ein sehr feinfühliger Text, der es in sich hat. Fabienne Marsaudon, welche wir beim Brel-Barbara-Konzert erleben durften, hat mir dieses schöne Lied wieder in Erinnerung gerufen. Unten der Liedtext in Originalsprache (weil er nur in französisch so melodiös und prägnant klingt).

Und der Klassiker von Jacques Brel durfte natürlich auch nicht fehlen: Quand on a que l’amour … wunderschön schlicht und glaubwürdig interpretiert von Fabienne Marsaudon.

Zwei Liedtexte, die für mich eine starke Antithese darstellen zur scheinbaren Zwangsläufigkeit von Krieg, Gewalt, Profitgier und Eigennützigkeit.

PRENDRE UN ENFANT PAR LA MAIN (Yves Duteil, 1977)

Prendre un enfant par la main
Pour l’emmener vers demain
Pour lui donner la confiance en son pas
Prendre un enfant pour un roi

Prendre un enfant dans ses bras
Et pour la première fois
Sécher ses larmes en étouffant de joie
Prendre un enfant dans ses bras

Prendre un enfant pas le coeur
Pour soulager ses malheurs
Tout doucement sans parler sans pudeur
Prendre un enfant sur son coeur

Prendre un enfant dans ses bras
Mais pour la première fois
Verser des larmes en étouffant sa joie
Prendre un enfant contre soi

dou, dou, dou, dou…

Prendre un enfant par la main
Et lui chanter des refrains
Pour qu’il s’endorme à la tombé du jour
Prendre un enfant par l’amour

Prendre un enfant comme il vient
Et consoller ses chagrins
Vivre sa vie des années et soudain
Prendre un enfant par la main

En regardant tou au bout du chemin
Prendre un enfant pour le sien

Quand on n’a que l’amour (Jacques Brel, 1956)

Quand on a que l’amour 
A s’offrir en partage 
Au jour du grand voyage 
Qu’est notre grand amour

Quand on a que l’amour 
Mon amour toi et moi 
Pour qu’éclatent de joie 
Chaque heure et chaque jour 

Quand on a que l’amour 
Pour vivre nos promesses 
Sans nulle autre richesse 
Que d’y croire toujours 

Quand on a que l’amour 
Pour meubler de merveilles 
Et couvrir de soleil 
La laideur des faubourgs 

Quand on a que l’amour 
Pour unique raison 
Pour unique chanson 
Et unique secours 

Quand on a que l’amour 
Pour habiller matin 
Pauvres et malandrins 
De manteaux de velours 

Quand on a que l’amour 
A offrir en prière 
Pour les maux de la terre 
En simple troubadour 

Quand on a que l’amour 
A offrir à ceux là 
Dont l’unique combat 
Est de chercher le jour 

Was bleibt?

Ich stehe am Strand des D-Day in der Normandie, bei Longues-sur-Mer nördlich von Bayeux. Vor einer Woche wurde an dieser Küste dem „Débarquement“ der Alliierten vor 75 Jahren gedacht. Mit diesem massiven Angriff sei das Ende der Nazi-Herrschaft eingeleitet und damit das Ende des zweiten Weltkrieges möglich geworden. Die französischen Medien haben intensiv darüber berichtet; Städte, Museen und Kulturveranstalter haben grosse Veranstaltungsreihen eingerichtet. Ausstellungen und Plakataushänge ehren die Soldaten und Helden von damals; durchaus auch die Heldinnen und Helden der „Résistance“ und die freiwillig solidarischen Einsätze der Zivilbevölkerung etwa in der zum „Lazarett“ mutierten Stadt Bayeux. In den Kirchen erinnern Plakatreihen an jene Menschen, die in den Grausamkeiten des Krieges ihre spirituelle Kraft entwickelt hatten und für Friede und Versöhnung eingestanden sind.

Der Blick auf die Küste mit Ihren Überresten von Befestigungs-Anlagen (und Massen-Friedhöfen) macht nachdenklich, sprachlos. Der Gedanke an das unermessliche Elend, das mit dem Krieg einherging, wirkt ohnmächtig. Gut, dass der Geschichte gedacht und der Sprachlosigkeit entgegen gewirkt wird. Bleibt zu hoffen, dass diese Veranstaltungen nicht bloss der „Glorifizierung“ und kommerziellen Interessen dienen.

Dieser Stein in meiner Hand lag am Strand des D-Day. Was er schon alles erlebt haben mag? Die Natur nimmt hier ihren Lauf, wirkt schlicht, schön, unversehrt. Die Kräfte der Ge-Zeit-en wirken unbeirrt weiter. Was ist wohl härter, Stein oder Wasser? (Gewalt oder Liebe?) Normalerweise sucht sich das Wasser den „Weg des geringsten Widerstands“, umspült den Stein, mäandriert durch die Landschaft. Doch ist es nicht genau dasselbe Wasser, das in stürmischer Brandung alles mitreisst und auch harte Steine in beharrlicher Bewegung rund schleift und schliesslich gar zu Sand zermahlt? Panta rhei – alles fliesst.

Kurzer Abstecher in die Wüste

Tatsächlich eine besondere „Wüste“

Hier hat es gerade erst geregnet, einige Zonen sind noch von abfliessendem Wasser gezeichnet. Diese besondere „Wüste“ wird nämlich zweimal täglich überflutet. Ja, richtig geraten, wir sind in der Baie des Mont-Saint-Michel. Die Landesteile Bretagne und Normandie beanspruchen diese einzigartige Landschaft je für sich; da ist es salomonisch weise, dass die grossartige Bucht und der beeindruckende Klosterberg gleich zum UNESCO-Welterbe erklärt wurden.