Nadine Pungs, Meine Reise ins Übermorgenland

Bei uns ist immer noch Winter – und Lockdown. Der Camper steht im Winterquartier. Da ist es naheliegend, sich der einen oder andern Sofa-Reise bzw. Schaukelstuhl-Reise zu widmen. Derzeit: Nadine Pungs, Meine Reise ins Übermorgenland – allein unterwegs von Jordanien bis Oman, Verlag Malik, München 2020
Allein und mit Neugier im Gepäck erkundet Nadine Pungs die Arabische Halbinsel: von Jordanien über Kuwait, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Oman bis an die Grenze des Jemen. Sie reitet mit Beduinen durch die Wüste, übernachtet in Zelten und Wolkenkratzern, spricht mit Gastarbeitern und Geflüchteten. Sie trifft einen Scheich und hat sogar eine Audienz bei einer waschechten Prinzessin. Pungs sammelt Geschichten aus dem Orient und fügt aus ihren Begegnungen und Beobachtungen ein schillerndes Mosaik des heutigen Arabien zusammen. Dabei erlebt sie Herzensgüte, aber auch ausweglos erscheinende Situationen. Und irgendwann muss sie sich entscheiden: aufgeben oder solange weiterreisen, bis die Wüste das Meer küsst. (Klappentext)

Nadine Pungs, Jahrgang 1981, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Mit einem frischen und knackigen Schreibstil, zuweilen etwas salopp und launig, beschreibt sie ihre Erfahrungen, Begegnungen und Beobachtungen als alleinreisende Frau. Ausgestattet mit einem gesunden Selbstvertrauen und einem den Menschen zugewandten Interesse („Neugier“ tönt etwas zu forsch) geht sie nahe ran, lässt sich auf Begegnungen und Zufälle ein, spricht Menschen unerschrocken an … und fordert zuweilen auch heraus. Kritische, auch selbstkritische, Reflexion und ethische Positionierung lässt sie nicht vermissen. Dass ihr lockerer Schreibstil niemals ins Oberflächliche abgleitet, ist wohl ihrer fundierten historischen wie literarischen Auseinandersetzung mit dem Reiseland zu verdanken. Dennoch beschleicht mich zuweilen ein etwas ambivalentes Gefühl: da düst eine moderne junge Frau aus Mitteleuropa in vergleichsweise kurzer Zeit durch den Orient und „masst sich ein Urteil an“ – würde eine berechtigte „Aufforderung zum Dialog“ nicht ein längeres Sich-Einlassen erfordern? Arroganz oder Dialog der Kulturen? Dennoch insgesamt eine anregende Lektüre mit Passagen, die zum Weiterdenken einladen:

Bei der Umkehr am geschlossenen Grenzübergang von Oman nach dem kriegsgeplagten Jemen: „Und doch ist da dieses Verlangen in mir, einfach weiterzureisen, über die Grenze hinweg, stetig vorwärts. Von der einen Fremde in die nächste, das Meer überqueren, einen Kontinent durchwandern, dann wieder Meer und Land und immer so fort. Der eigenen Endlichkeit entkommen.“ (S.192)

Am Rande der Wüste: “ Durch meine Finger rinnt der Sand wie eine bereits erzählte Geschichte. Die Wüste entzieht sich der Tyrannei der Zeit. …. Ich öffne die Augen, sehe die Linien im Sand, die der Wind um die Sträucher herum gezeichnet hat. Die wandernde Sonne. Meine Fussstapfen sind verweht, als hätte ich nie existiert. Abu Salif ruft meinen Namen. Würde ich jetzt sterben, könnte ich damit leben.“ (S.197)

„Dass Europa sich selbst unablässig als rational und modern begreift, sein konstruiertes Gegenüber, den Orient, jedoch als irrational und rückstänädig, ist betrüblich. Und falsch. Am Ende verrät diese Denkweise mehr über den Westen als über den Osten. … Auch mein Orientbild ist Fantasie, eine Verklärung, eine Blaue Blume, die niemals gefunden werden kann.“ (S.228)

„Waschecht orientalisch bedeutet für uns Westler das Alte, es bedeutet Basare, Gewürze und Kamele. Da ist immer die Sehnsucht nach dem Märchenhaften, nach dem Geheimnisvollen, daran können auch die Ängste des 21.Jahrhunderts nicht rütteln. …. Die arabische Realität verzeichnet jedoch Risse, und die Gesellschaften hangeln sich Übergängen und Umbrüchen entlang. Mit pittoresker Rückständigkeit hat das nichts zu tun, im Gegenteil. Manche Touristen mögen vielleicht enttäuscht sein, wenn sie feststellen, dass die Bedu iPhones benutzen und statt Ziegen Instagram füttern. Sie fühlen sich dann um ihre Vorstellung vom Orient betrogen. Sie wollen das Morgenland erleben und nicht das Übermorgenland. Aber wir bereisen ja stets Welten, die im Niedergang begriffen sind. Auch ich glaubte, dass ich mir Wadi Rum nur <klassich> auf dem Rücken eines Höckerträgers <erarbeiten> könne und nicht im klimatisierten Land Rover. Dabei übersah ich, dass kein Bedu heute mehr auf Kamelen unterwegs ist.“ (S.229)

„Aber nicht nur der Orient ist Fiktion, der Okzident ist es gleichermassen. Bloss eine Erfindung. … Es gibt kein Schwarz und Weiss, und es gibt auch keine Dichotomie zwischen Ost und West, sondern eine ständige Auseinandersetzung und eine gegenseitige Beeinflussung. Alle Fremden sind miteinander verwandt, sagt ein Sprichwort aus Arabien. Und Goethe dichtete: <Wer sich selbst und andre kennt / wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / sind nicht mehr zu trennen.>“ (S.230)

„Die Beziehung zwischen Okzident und Orient lässt sich auf vier Wörter herunterbrechen: Faszination und Furcht, Anziehung und Abneigung. Im 21.Jahrhundert überwiegt die Furcht. Gewiss, auch ich schlage mich mit Vorurteilen herum. Wer von sich behauptet, wertfrei durchs Leben zu gehen, ist ein selbstgerechter Idiot. Deshalb reise ich. Um die eigene Meinung herauszufordern. Aufklärung statt Aufregung.“ (S.15)

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