Precht, Richard David: Jäger, Hirten, Kritiker – eine Utopie für die digitale Gesellschaft, Goldmann-Verlag München, 2018
Precht unternimmt einen klugen Ausblick auf das, was kommen mag. Und er bemüht sich, der gesellschaftlichen Entwicklung und insbesondere der Digitalisierung auch gute Aspekte abzugewinnen. Er verhehlt aber nicht, dass wir kulturgeschichtlich möglicherweise (vermutlich) noch nicht reif seien für eine sinn- und massvolle Anwendung dieser neuen Technologien.
Die Lektüre dieses Buches hat meinen Skeptizismus nur noch verstärkt. Dennoch habe ich einige Passagen abgeschrieben, die mich besonders anstacheln und zum Weiterdenken anregen.
Zum Zeitpunkt der Lektüre im Januar 2020 konnte ich noch nicht ahnen, dass der fett gesetzte Satz im drittletzten Abschnitt so bald eine Entsprechung finden würde: zwei Monate später haben wir die weltweite „Corona-Krise“ und damit – hoffentlich – jenen „Punkt, an dem man zwingend hätte Halt machen müssen“.
Digitale Revolution: „Vieles davon klingt wie die Erfüllung alter Menschheitsträume. Wir gleiten und surfen durch Zeit und Raum, den Engeln gleich, wir befreien uns von harter und langweiliger Arbeit, wir basteln uns virtuelle Welten, wir überwinden Krankheiten und werden irgendwann uralt, vielleicht sogar fast unsterblich. Doch was passiert eigentlich, wenn man auf diese Weise Wirklichkeit gewinnt und Traum verliert? Was wird aus all den nicht-technischen, geistigen Lebensdimensionen, die vielen Menschen so wichtig sind, dem Irrationalen, dem Unergründlichen, dem Zufälligen, dem Lebendigen? (S.16)
Was macht die Revolution der Technik mit dem Seelenleben der Menschen? Verwandelt sie uns in Menschen „ohne Eigenschaften“, wie dies der grosse Roman von Robert Musil nahelegt? (Entfesselung der Grenzen … funktionale Differenzierung …) hin „zu einer inneren Dürre“, einer „ungeheuerlichen Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen“, zu einem „ungeheuren Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten“. „Welche Verluste“, so fragt er, „fügt das logisch scharfe Denken der Seele zu?“ – Wie gleichen sich die Zeiten und die Fragen. (S.17)
All diese Entwicklungen unterliegen keinem naturgesetzlichen Fortschritt, sondern einer bestimmten Art zu denken und zu wirtschaften: dem Effizienzdenken! Dass Menschen bei allem was sie herstellen, stets das Ziel verfolgen, ihr Geld zu vermehren, ist keineswegs Teil ihrer biologischen Natur. …. Effizienz, Effektivität und Optimierung (sind) die Antreiber unserer Ökonomie. (S.19)
Doch etwas ist ganz neu am Effizienzdenken der vierten industriellen Revolution. Sie wendet die Aufforderung zur Optimierung nicht nur auf Produktionsprozesse an. Nein, sie hält den Menschen selbst für optimierungsbedürftig! (S.20) (… möchte ihn nicht humaner sondern maschinenähnlicher machen)
Die Informatiker, Programmierer und Netzwerkdesigner der Gegenwart arbeiten nicht an einer besseren Zukunft, sondern für den Gewinn weniger. Und sie verändern unser Leben und Zusammenleben ohne jede demokratische Legitimation. Das hunderttausendfach wiederholte Versprechen ist, unser Leben einfacher zu machen und nicht demokratischer. Und schon das Versprechen des einfacheren Lebens ist uneinlösbar. Noch hat jeder Versuch, die Komplexität des Lebens zu verringern, diese weiter erhöht. Was wir der digitalen Technik und ihren Treibern tatsächlich verdanken, ist eine immer globalere Einheitszivilisation.“ … Die Biodiversität menschlicher Kultur wird immer kleiner. … Auch die sozialen Unterschiede und Traditionen werden durch das Geld genichtet. … (S.35)
… (so), dass jeder, wenn er denn schon in keiner eigenen Kultur mehr lebt, zumindest in seiner eigenen Welt leben darf: selbst generiert durch die Suchbewegungen im Netz, den Spuren und Pfaden im virtuellen Sand. Was früher der Widerständigkeit des Lebens ausgesetzt war, verwandelt sich in ein narzisstisches Spiegelkabinett, sorgsam gewartet von gesichtslosen Profiteuren im Hintergrund.“ (S.36)
Betroffen sind nichts Geringeres als die Werte der Aufklärung, auf deren Grundlage unsere Demokratie und Gesellschaftsordnung steht. Marx‘ zeitlose Erkenntnis, dass alle wichtigen sozialen Prozesse stets „hinter dem Rücken“ der Betroffenen in einem politisch unbewussten Raum stattfinden, bestätigt sich erneut. (37)
Dass die ultimative Verwertung von allem, was sich an Menschen gewinnbringend ausschlachten lässt, inhuman ist, darin dürften sich die meisten einig sein. … Was soll Individualität – wörtlich „Unteilbarkeit“ – sein, wenn der Mensch in Millionen Daten zerlegt und als so gewonnenes Profil eingetütet und an die Meistbietenden verkauft wird, um ihn zu manipulieren, käufliche Dinge zu begehren? Spürbarer und sichtbarer noch sind der Lärm, die Geschwindigkeit, die Dauerwerbung und der Aufmerksamkeitsraub, die in die sozialen Räume eindringen, ins gemeinsame Essen mit Kindern am Tisch, die Verbundenheit auflösen und Geborgenheit, Stille, Zurückgezogenheit und das „Bei-sich-sein“ zerschneiden. (38)
Mit Verweis auf gigantische Neubauprojekte in Chicago (und ähnlich auch in Ghibellina Nuova, Sicilia) wird das nicht nur in der Architektur auftretende Phänomen des Solutionismus beschrieben: am grünen Tisch wird in bester Absicht ein technokratisches Idyll entworfen, welches aber völlig an den Menschen vorbei geplant ist und schliesslich nicht akzeptiert bzw. nicht (oder destruktiv-negativ) belebt wird. Denn …
Viele gesellschaftliche Fragen lassen sich nicht durch technische Mittel beantworten, ohne ihnen viel unbeabsichtigte Gewalt anzutun. „Auf Architekturzeichnungen ist es immer still. Im wirklichen Leben nicht“, meine der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom. (202)
Die Situation ist tückisch. Denn jeder neu bewilligte Einsatz von Überwachungstechnik hat ja Argumente für sich. Dass die ganze Entwicklung hingegen wichtige Werte zerstört, gerät leicht aus dem Blick, denn jeder einzelne Schritt ist ja so schlimm nicht. Doch unter der Hand wird Transparenz wichtiger als das Recht auf Privatsphäre, und Kontrolle ersetzt Freiheit. Am Ende steht kein freiheitlicher, sondern ein kybernetischer Staat, ein Wandel in ungezählten kleinen Schritten. Und nirgendwo auf diesem Weg lag ein Punkt, an dem man zwingend hätte Halt machen müssen …. (203)
„Eine Geschichte ist das, was sich ereignet, wenn etwas dazwischenkommt“, definierte einst der Philosoph Odo Marquard. Ein Plan hingegen geht dann auf, wenn nichts dazwischenkommt. … Doch wenn nichts dazwischenkommen soll, was ist dann noch Leben?
Auf dem Weg zu einer humanen Utopie müssen wir dieser Gefahr ins Auge sehen: Wenn wir nicht aufpassen, so mündet der gegenwärtig eingeschlagene Pfad in den kristallinen Kältetod der Perfektion. Dabei schaffen wir, geradezu zwangsläufig und ohne bösen Willen, die Politik ab. (208) …
Wer alles unter dem Gesichtspunkt der Effizienz sieht, …. (… dem bleibt verborgen) dass unsere Demokratien zum Beispiel mit Absicht langsam sind. Zweikammersysteme und Gewaltenteilung dienen nicht nur dazu, die Macht ausbalancierter zu verteilen, sondern auch politische Entscheidungen zu entschleunigen (… und Aktionismus vorzubeugen). … Wer die Sphäre der Politik immer effizienter machen will, der schafft sie am Ende ab und ersetzt sie durch Sozialtechnik. (209)