
Aus bekannten Gründen hat sich unser Reisejahr anders angelassen als gedacht. Workaway-at-home im eigenen Garten und auf der Alp war angesagt. Doch nun geht’s weiter:
Seit einer Woche sind wir wieder unterwegs. Gerade noch rechtzeitig vor dem grossen Unwetter konnten wir am 2. Oktober 2020 – von Düdingen und durchs Unterwallis kommend – den Grossen St.Bernhard sowie das Aostatal durchqueren. In strömendem Regen trieb es uns südwärts, die ganze Po-Ebene hinunter. Die erste Nacht standen wir in Forli, einer Kleinstadt in der Nähe von Ravenna und Rimini; ein ruhiger Parkplatz direkt am Stadtpark. Forli hat am Rande der Altstadt ein Quartier, welches architektonisch dem italienischen Rationalismo zuzuordnen sei, einem nüchtern-martialischen Baustil aus der Zeit Mussolinis. Letzterer wiederum verbrachte seine Kindheit im etwa 25km südlich gelegenen Ort Predappio, wo heute ein sozialistischer Bürgermeister alles daran setzt, eine antifaschistische Erinnerungskultur aufzubauen. Das Museo del Fascismo soll kritisches Bewusstsein bilden und verhindern, dass Mussolinis Geburtsort nur Pilgerziel von Neofaschisten bleibt. Es tut gut zu sehen, dass auch in Italien eine neue Generation wirkt, die gewissen archaischen Tendenzen ein neues Bewusstsein entgegensetzt.
Danach ging’s für eine Nacht nach San Marino und tags darauf ins wunderschöne Städtchen Urbino (Marche). Während San Marino – ähnlich dem Appenzell Innerrhoden – einen kulturellen Sonderstatus als angeblich älteste Demokratie Europas beansprucht und diesen höchst erfolgreich vermarktet, zeigt sich Urbino deutlich bescheidener und weit authentischer als lebhaftes studtentisches Zentrum auf einer der vielen Anhöhen der Marche.
Zwei Nächte standen wir anschliessend in der Baja di Vallugola in den Monti San Bartolo, einem Naturpark an der Adriaküste oberhalb Pesaro. Danach folgte ein weiterer Rutsch südwärts: der malerische gelegene, überraschende und etwas verträumte Bergort Ripatransone – immer noch in der Provinz Marche – wartete mit einem schön gelegenen Stellplatz auf, mit frei verfügbaren Services. Eine Tankstelle an bester Aussichtslage auf dem Bergrücken zeugt aus vergangener Zeit; der Knöterich hat sich der Anlage bemächtigt und das Relikt aus der Zeit erdölbetriebener Fahrzeuge in Dornröschenschlaf versetzt. Wie visionär!
Begleitet von erneuten Regenschauern – und ständigen Zweifeln, ob das Wetter im Süden wohl besser würde – geht’s tags darauf weiter südwärts: erster Halt in Ortona (Provinz Abruzzi). Übernachtet wird schliesslich im Hafengelände von Termoli, der letzten Stadt nördlich des Gargano, Ausgangsort zu den Isole Tremiti. Eine bezaubernde Altstadt, um diese Jahreszeit zwar wenig belebt … Häuser und Vorplätze sind schon so hergerichtet, dass sie den Herbststürmen die Stirne bieten können. Und wieder ein Altstädtchen das sich rühmt, die engste Gasse Italiens zu bergen. Mit tatsächlicher Breite von 34cm könnte es diesmal zutreffen; das entsprechende Gässchen in Ripatransone reklamiert denselben Titel, dürfte aber etwas breiter – und dafür unbestritten länger – sein. Sonderbar, dieses allzu menschliche Streben nach Rekorden: den geschichtsträchtigen ausgetretenen Steinplatten in den Gässchen dürfte das ziemlich Wurst sein.
Gestern Donnerstag dann der unübersehbare Wechsel in den Süden. Ab jetzt vermeiden wir die Autobahn Adriatica und folgen primär den alten Überland-strassen. Und kurz nach Termoli passieren wir die Provinzgrenze zwischen Molise und Puglia; der Ausbaustandard der Strasse wechselt schlagartig (im wörtlichen Sinn, was die Schlaglöcher betrifft!) und der urplötzlich auftauchende Müll am Strassenrand erinnert uns an Kalabrien und Sizilien im vergangenen Jahr. Mitten in der Pampa steht an manchen Ausstellbuchten neben der Strasse ein zerbeulter Plastikstuhl – und immer öfter eine üppig drappierte Frau darauf, welche ihre Dienste anbietet. Ganz offensichtlich verbreitetes Migrantinnen-Elend.
Der unermesslich weite flache Landstrich zwischen Foggia und der Halbinsel des Gargano ist so etwas wie das „Seeland“ Italiens, weitläufige Gemüsekulturen. Von weitem wird deutlich, dass hier mal Meerwasser strömte und der Monte Gargano mal eine Insel war. Dann auf den holprigen Landsträsschen der kahlen Bergflanke des Gargano entlang zu fahren, erinnerte mich unweigerlich an die Velotouren in den Steinwüsten im Süden Marokkos. Karg und trocken die Gegend, nur mit niedrigem Buschwerk bewachsen; auf ausgewählten Plätzen sorgsam gehegte Weiden und Aecker, mit Steinmauern umfasste Fruchtgärten und im „Flachdach-System“ gezogene Weinreben, wie eine riesengrosse Pergola.
An der Umfahrungsstrasse um Manfredonia überrascht uns eine unerwartete Perle am Strassenrand: die „Abbazia San Leonardo di Siponto“. Kurz danach erreichen wir die Area Sosta Camper „Auliv“ in der Bucht von Mattinata, ein wunderschöner, kleiner und familiärer Platz unter Olivenbäumen, direkt am Meer. Hier entstanden einige „Sehnsuchtsbilder“, als wir im Juni 2017 anlässlich unserer Adria-Rundreise schon mal hier gestanden hatten.