Il grande cretto – der grosse Riss

In der Nacht vom 14. zum 15.Januar 1968 zerstörte ein gewaltiges Erdbeben die 6000-Einwohner-Stadt Gibellina und mit ihr viele weitere Dörfer im westsizilischen Belice-Tal, einer sehr armen bäuerlichen Bergregion. Über tausend Menschen kamen dabei um und mehr als hunderttausend Menschen wurden obdachlos. Den Berichten nach löste dieses Unglück zwar grosse Hilfsbereitschaft aus; es seien aber grosse Teile der Hilfsgelder in mafiösen Kanälen versickert, während die Bevölkerung immer noch in notdürftigen Baracken hauste.

Schliesslich wurde in den siebziger Jahren mit Gibellina Nova auf der anderen Bergseite und 16km entfernt eine futuristische Modell-Stadt errichtet. Der  Bürgermeister Ludovico Corrao schaffte es, viele Künstler zu einem Beitrag zu bewegen, so dass die Stadt zu einem lebendigen Beispiel wurde, wie die Kunst mit Poesie, Kreativität und Schönheit einen Kontrapunkt bilde zu Zerstörung und (Natur-)Gewalt. Das neue Gibellina scheint allerdings zwar ideal erdacht zu sein, jedoch nicht unbedingt dem Bedürfnis der Bevölkerung zu entsprechen. Zuweilen mache sich Leere und Ödnis breit … und die teils leeren und ungepflegten Gebäude weckten auch bei uns nicht wirklich die Lust zur Besichtigung.

Beeindruckend und berührend dagegen, was der Künstler Alberto Burri (1915-1995) Anfang der neunziger Jahre schuf: das grösste Land-Art-Werk „il grande cretto – der grosse Riss“ überdeckt einen grossen Teil des ehemaligen Gibellina und zeichnet die mittelalterliche Strassenführung nach. Auf und mit den Trümmern des Ortes wurde – einem weissen Leichentuch gleich – der Hang mit rund 1,5 Meter hohen Mauern überzogen und die Trümmer-Parzellen dazwischen überdeckt. Es ist hoch beeindruckend, still und nachdenklich durch diese „Gassen“ zu gehen, die Wolkenstimmungen und Lichtspiele darauf zu beobachten … und die kleinen Zeichen des Neubeginns zu entdecken, etwa wenn ein „Unkraut“ bzw. eine Pionierpflanze sich mutig ansiedelt. Dennoch bleibt manchmal eine bange Beklemmung, wenn man im weiteren Umkreis sieht, wie noch Trümmer und Ruinen dastehen, grosse Brachflächen ungenutzt bzw. überwuchert sind … und selbst die Zufahrtsstrasse scheint von der Natur allmählich bedrängt und zurückerobert zu werden. Vergänglichkeit … und Neubeginn.

Am Abend ahnten wir noch nicht, dass uns auf dem Parkplatz gleich neben dem Cretto in der Nacht ein unbändiges Gewitter wachhalten würde. Zunächst fantastische Blitze in der Ferne, dann ein furchterregendes Blitz-Spektakel direkt um uns, Donner und zum Glück auch etwas Regen. Der ganze „cretto“ war in gespenstisches Licht getaucht – und vermittelt eine unmittelbare Ahnung darüber, was Naturkräfte anzurichten vermögen. Umso dankbarer sind wir, als am nächsten Morgen die Sonne durch die Wolken bricht …. und wieder neue faszinierende Lichtspiele und Stimmungen vermittelt. Ein unvergesslicher und nachdenklich stimmender Eindruck.
Am Ende bleiben nur die Schatten ….

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